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Eine gemachte Erfahrung - Ein persönlicher Blog

Heike Lewin • 23. Januar 2020

Wie bereits angekündigt, wollte ich mich in diesem Blog mit meinen Grenzen auseinandersetzen. Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass das Thema ein ganz anderes ist. Grenzen - dieses Wort taucht immer wieder auf, wenn Menschen besondere Situationen schildern. Oft wird dann gesagt: Du musst auch mal deine Grenzen überschreiten, sei mal mutig, dann steckst du deine Grenzen höher. Und genau das ist gar nicht mein Thema. 

Vor vier Wochen hatte ich einen Unfall. Ein komplizierter Schulterbruch, der aufwendig operativ versorgt werden musste, und ein paar kleinere Verletzungen rissen mich innerhalb weniger Sekunden aus meinem Alltag. Und das löste in mir Ängste, Verzweiflung und Hilflosigkeit aus. Innerhalb weniger Stunden musste ich mich damit auseinandersetzen. 

Ich hatte das große Glück, dass eine liebe Freundin bei diesem Sturz dabei war und unbekannte Menschen Hilfe anboten. Den Krankenwagen, den sie rufen wollten, lehnte ich natürlich ab. "Die paar Schritte in meine Praxis schaffe ich noch.", meinte ich. 

Um es hier kurz zu machen: Ich kam in die Notaufnahme. Nach zwei Stunden erhielt ich - nach Betteln - eine Schmerzinfusion. Nach drei Stunden wurde ich geröntgt und die Diagnosen gestellt. Ich wurde nach vier Stunden entlassen, mit einem Operationstermin eine Woche später, einem Trümmerbruch und diversen anderen Verletzungen - aber ohne Schmerzmittel. Und die Auflage, mich nachher um 8.00 Uhr - es war inzwischen 1.30 Uhr - beim Narkosearzt vorzustellen. Im Rollstuhl sitzend, durstig, heulend und die große Frage, wie ich ins Auto komme, brachte mich an meine Grenzen. 

Irgendwie kamen mein Mann und ich nach Hause. Ich war der Meinung, wenn ich erst einmal im Bett liegen würde, wird alles gut. Schmerzmittel hatte ich noch, die würden sicherlich schnell helfen. Doch da hatte ich mich getäuscht. Es half nichts. Um sechs Uhr rief ich einen Freund an, von dem ich wusste, dass er adäquate Schmerzmittel hat, und bat, mir welche zu bringen. 

Die folgenden Tage lösten eine persönliche Krise aus, mit der ich mich intensiv auseinandersetzen musste. 
In diesen Tagen merkte ich, wie hilflos ich war. 


Aber was ist überhaupt Hilflosigkeit? 

Hilflosigkeit beschreibt ein subjektives, individuelles Gefühl. Jeder Mensch empfindet es anders. Es kann den Ursprung in einer Arbeitslosigkeit, Schulden und Armut haben - Ein heute ganz großes gesellschaftliches Problem. Aber auch viele andere externe Belastungen, wie Familienkonflikte und Trauer, können Hilflosigkeit auslösen.

Ich merkte meine eigene Hilflosigkeit relativ schnell nach Ankommen in der Notaufnahme. In einem Zimmer mehr sitzend wie liegend, realisierte ich am Anfang gar nicht, was passiert war. Erst im Laufe der Nacht fing in an, zu fühlen und zu verstehen. Mich überkam ein großes Gefühl der Ohnmacht, mir selber nicht helfen zu können, aber auch keine Hilfe zu bekommen. 

In wenigen Tagen stand Weihnachten vor der Tür. Ich war mir sicher, bis dahin geht es mir bedeutend besser. Ich hatte mich getäuscht. 

Die Tage bis zur Operation waren von Schmerzen geprägt. Ein weiterer Termin in der Klinik attestierte mir nicht führbare Schmerzen - die Medikamente wirkten also nicht. Alternativen gab es nicht. Eine stationäre Aufnahme im Rahmen einer Schmerztherapie war auf Grund der Weihnachtsfeiertage ebenfalls nicht möglich. Also musste ich die acht Tage bis zur Operation irgendwie überstehen. 

Ich merkte schnell, dass diese Hilflosigkeit einen hohen Stellenwert für mich bekam. Ich hatte die Kontrolle verloren, war abhängig geworden von unserem sozialen System und mein Vertrauen in unser Gesundheitssystem schwand. 

Es kamen Gedanken, wie: Was machen alte Menschen, die keine Familie mehr haben oder Menschen die alleine sind? Meine Mutter hatte sich einmal den Oberarm gebrochen - hatte ich mich damals genug um sie gekümmert? Wie hat sie die Tage damals überstanden? Hätte ich mehr bei ihr sein müssen? Schuldgefühle tauchten auf.

Viele Situationen fielen mir in diesen Tagen ein. Ich hatte plötzlich so viel Zeit zum Nachdenken. Ein altes, befreundetes Ehepaar hat schon vor Monaten angefragt, ob ich die rechtliche Betreuung für sie übernehmen würde. Beide weit in den Neunzigern. Ich halte sie die ganze Zeit hin, weil ich nicht weiß, ob ich deren Wünsche an mich erfüllen kann.

Gedanken um einen Streit mit einem ehemaligen Freund kamen wieder. Und damit die Frage: Warum ist dieser Streit überhaupt entstanden? Was ist dort schief gelaufen? Wer sind meine Freunde und auf wen kann ich mich verlassen? Wem kann ich meine Schwächen zeigen und wo kann ich ICH sein?

Aber auch die Schuldfrage kam auf. Hätte ich besser aufgepasst, wäre der Unfall nicht passiert. Wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann, hatte ich diesen Unfall selber verursacht. Was tue ich jetzt meiner Familie - insbesondere meinen Mann - damit an und wie wird Weihnachten? Ängste befielen mich. Ängste in Bezug auf das Überstehen der Tage bis zur Operation, Angst diese Schmerzen nicht aushalten zu können. Verzweiflung überkam mich. 

Am dritten Tag - zwei Tage vor Weihnachten - merkte ich, dass sich meine Gedanken änderten. Ich fühlte, dass ich gar nicht mehr diese starke Frau sein konnte. Und dass es auch in meinem Leben Situationen geben darf, die mich aus der Bahn werfen können. Dass ich mich nicht um alles kümmern muss und dass ich mir erlauben darf, auch einmal zu sagen: Ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus. Dass ich weinen und verzweifeln darf oder einfach auch mal in den Armen meines Sohnes weinen darf. Weinen, ohne Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen und dabei kein schlechtes Gefühl zu haben. Nicht immer die Starke sein zu müssen oder auf jeden Fall so zu tun. 

Ich entschied mich, an dem traditionellen Weihnachtsessen am ersten Weihnachtstag nicht teilzunehmen, und zum ersten Mal war ich mir gegenüber ehrlich. Ich schaffe es einfach nicht. Körperlich, wie auch psychisch. 

Ich gab mir die Erlaubnis auf die Frage, wie es mir geht, ehrlich mit einem „schlecht“ zu antworten. Ich verzichtete auf Make-Up, ließ mir in die Jogginghose helfen und die Haare waren nur gekämmt und nicht frisiert. Ich entschied mich die Praxis für die nächsten 6 Wochen zu schließen und setzte mich mit meinen Klienten in Verbindung, um die Termine zu verschieben.

Und plötzlich merkte ich, dass es mir mit meinen Entscheidungen gut ging. Ich bewertete nicht mehr, sondern entschied aus dem Bauch heraus. Ohne wenn und aber, ohne nachzudenken, ob gut oder schlecht. 

Was war geschehen? Musste erst etwas passieren, um zu begreifen, dass ich vieles nicht beeinflussen kann? Dass Hilflosigkeit und auch Hoffnungslosigkeit - auch in meinem Leben - für eine gewisse Zeit eine Rollen spielen darf? Dass ich mich zurückziehen darf, auch mal kurz angebunden und müde sein darf?

Heute knapp vier Wochen nach der Operation ist mir so vieles klar geworden. Ich habe Klarheit über einige Sachen bekommen. Die Tage haben mich zum Nachdenken gezwungen. Meine getroffenen Entscheidungen haben mir gut getan und ich habe zum ersten Mal eine gewisse Freiheit gespürt. Die Freiheit „Nein“ zu sagen, auf sich zu hören und Bewertungen abzulegen. Annehmen, was man nicht ändern kann, aber auch das Recht haben, zu weinen, wenn einem danach ist. 

Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen werden. Dass die Gesellschaft toleriert, wenn etwas nicht der Norm entspricht. Dass Mut entwickelt wird, wo er gut tut. Ich habe erfahren, ich darf meine eigenen Entscheidungen treffen, ohne Angst zu haben, meine Familie und Freunde könnten meine Entscheidung nicht mittragen. 

Ich darf Schwäche und Verzweiflung zeigen, denn genau das macht mich aus….
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