von Heike Lewin
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2. Oktober 2023
Immer wieder hört man bissige, verletzende Kommentare von Menschen über übergewichtige Menschen. Oftmals sind es Menschen, die selbst eine lange Zeit übergewichtig waren oder immer noch sind. Warum regt sie das Dicksein anderer Menschen auf und warum fühlen sie sich berufen, ein Urteil abzugeben? Könnte es ihnen nicht egal sein, was andere Menschen wiegen, wie viel Speckrollen sie haben und warum sie überhaupt dick sind? Und wie geht es eigentlich den Menschen, die Ziel solcher Kommentare sind? Gehässige Kommentare, respektlose Blicke und beleidigendes Verhalten - Übergewichtige müssen einiges ertragen. Aber woher kommt diese Abneigung und die Übereinstimmung zu diesem Thema in unserer Gesellschaft? Man hat herausgefunden, dass Menschen mit Übergewicht drei bis vier Mal am Tag kritische Kommentare, unerwünschte Blicke, gut gemeinte Ratschläge oder Benachteiligungen erfahren, die auf ihr Körpergewicht zurückzuführen sind. Wer heute dick ist, bekommt es tagtäglich zu spüren. Der Alltag ist geprägt durch das Übergewicht. Sei es im Bus, auf der Straße, beim Einkaufen oder beim Sport. Und wenn sie es dann noch wagen, in der Öffentlichkeit zu essen, wird mit einem Kopfschütteln das Unverständnis deutlich gemacht. Schlank und makellos – das ist die heutige Norm. Wer da nicht mitmacht, wird ausgegrenzt. „Machst Du eigentlich Sport?“, „Willst Du nicht lieber etwas Weiteres tragen?“, „Aber ein hübsches Gesicht hast Du ja...“. Dass der eigene Körper beleidigt und von anderen bewertet wird, daran müssen sich Dicke schon früh gewöhnen. Um sich vor solchen Verletzungen zu schützen, reagieren viele mit einem aggressiven Verhalten. Viele übergewichtige Menschen wagen es nicht mehr, sich im Sommer in ein Café zu setzen und dort etwas zu sich zu nehmen. Mit einer Eistüte durch die Stadt zu bummeln - für viele unvorstellbar. Nicht machbar, weil sie die Blicke und Kommentare nicht aushalten. Viele sagen jetzt: "Dann fehlt diesen Menschen einfach Selbstbewusstsein." Aber so einfach ist es nicht. Blicke, Getuschel, Kommentare - das alles verletzt die Seele, traumatisiert und ist nicht einfach durch mehr Selbstbewusstsein zu heilen. Es gibt so viele negative Erlebnisse und Situationen, die Übergewichtige erfahren - sei es beim Arzt, im Restaurant, beim Einkaufen, als Mutter oder Vater bei Veranstaltungen, im Kollegenkreis und bei der Freizeitgestaltung - und daraus entwickelt sich nach und nach ein größeres gesellschaftliches Problem. Viele Menschen scheinen das Gefühl zu haben, es sei okay, dicke Menschen bloss zustellen, zu verletzten oder über sie zu reden. Sie nehmen diese gar nicht mehr als vollwertige Menschen wahr, sondern reduzieren sie auf ihren Körper. In unserer westlichen Welt sind wir schnell dabei, gedanklich und auch mit dem Finger auf Übergewichtige zu zeigen. In vielen anderen Ländern ist diese Phänomen nicht so stark verbreitet. Übergewicht hat dort nicht diesen hohen gesellschaftlichen Makel, den es hier in Deutschland hat. "Dick, selber schuld", "Schau mal, wie dick der ist", "Die sollte auch was anderes anziehen" - Aussagen, die gerne getroffen werden. Ganz oft von Menschen, die selber dick waren oder selber übergewichtig sind. Haben diese Menschen vergessen, dass sie selber einmal dick waren oder sehen sie sich anders, als sie sind? Nein, durch diese Aussagen erhöhen viele Menschen ihren eigenen Selbstwert. Dadurch, dass sie anderen die Schuld für das geben, was als negativ wahrgenommen wird. Unsere heutige Leistungsgesellschaft gibt Regeln vor. Aussagen wie „Mit ein bisschen Anstrengung kann es jeder schaffen“ oder „Dicke Menschen sind hemmungslos und undiszipliniert“ werden schnell und leicht ausgesprochen. "Menschen mit Übergewicht strengen sich also nicht genug an, sonst wären sie ja nicht so dick." Doch warum interessieren sich fremde Menschen überhaupt für sie. Müsste es ihnen nicht egal sein, ob andere Menschen sich anstrengen oder nicht, ob sie abnehmen oder dick bleiben und nicht dem Ideal von anderen entsprechen? Es könnte ihnen egal sein, ist es aber vielen trotzdem nicht, weil Dicksein eine Frage der Moral ist. Und Moral hat einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Dick, das heißt in unserer Gesellschaft unattraktiv und nicht erfolgreich. Auch heute sind in den hohen Positionen stark übergewichtige Menschen kaum zu finden. Ihnen wird ein hoher Ausfall durch Krankheit und Unpässlichkeiten vorhergesagt. Sie sind für manche Postionen ästhetisch nicht tragbar. Die Unternehmen brauchen agile, sportliche und gesunde Angestellte. Oft wird sich für sie entschieden, unabhängig von ihrem Können. Oftmals finden sie auch keine Partner. Beim Kennenlernen entscheidet zu allererst das Äußere. Natürlich zählen die inneren Werte, aber diese liegen zu diesem Zeitpunkt noch im Verborgenen. Der Leidensdruck von Übergewichtigen kann nicht daran gemessen werden, ob sie beim Treppensteigen aus der Puste kommen oder nicht in die Kleidergröße 40 passen. Vielmehr sind es die seelischen Probleme, die ihnen zu schaffen machen Gerade die, die schon in der Kindheit übergewichtig waren, neigen dazu, sich selbst zu beschuldigen und mangelnde Selbstliebe verschlimmert die Sache zusätzlich. Sie nehmen das Stigma für sich persönlich an und das ist sehr stark mit psychischem Leid verbunden. "Und was ist mit dem Geld, das uns Dicke kosten?!" Auch das ist eine gern wortreich ausgeführte Rechtfertigung dafür, sich abwertend über Übergewichtige zu äußern. Laut Studien treten ab einem BMI von 35 Erkrankungen vermehrt auf. Die Gesundheitskosten steigen je höher das Gewicht ist. Kreislauferkrankungen und Diabetes sind nur ein Beispiel dafür. Aber auch Sportunfälle kosten viel, die Sportler werden aber nicht stigmatisiert. Liegt es vielleicht daran, dass sie Leistungen zeigen? Das tun Dicke ja schließlich nicht? Mit Rauchern ist es ganz ähnlich. Heute müssen Raucher das Lokal verlassen, draußen rauchen und sich drastische Darstellungen möglicher Gesundheitsfolgen auf den Zigarettenpackungen ansehen. Und beides nehmen die meisten Raucher bereits als Diskriminierung wahr! Der Grad der Beleidigung ist bei Adipositas ein ganz anderer. Dicksein ist im Vergleich zu anderen Stigmata - wie Arbeitslosigkeit oder Behinderung - jenes, das mit den meisten Vorurteilen verbunden ist. In den Medien und in der Modebranche gibt es bereits viele gute Ansätze Dicksein zu etablieren. Blogger, Influencer und Plus-Size-Models bestimmen diese Branche, doch so richtig ernst genommen werden diese nicht. Dicke verdienen weniger und werden häufiger diskriminiert. Viele Ärzte und Wissenschaftler schätzen Übergewichtige unbewusst als dümmer, fauler und wertloser ein. Somit ist es kein Wunder, dass neun von zehn Übergewichtigen, die ihr Körpergewicht erfolgreich reduziert haben, alles tun, um nicht wieder zuzunehmen. Doch das ist gar nicht so einfach. Um es zu schaffen, bedarf es einer gesellschaftlichen Diskussion. Lebensstile müssen verändert werden und die Menschen müssen wieder zu sich selbst finden. Es müssen Angebote auch außerhalb der medizinischen Grundversorgung angeboten werden. Kurse für Selbstliebe, Ernährung und mentale Trainings müssen Bestandteil der Kostenübernahme der Krankenkassen sein und damit für jeden zugänglich werden. Heute scheint unsere Gesellschaft "dickenfeindlich" geprägt zu sein. Geprägt von einschränkenden Idealbildern. Wer dick ist, fällt auf - und aus der heutigen Norm. Und widerspricht dem vorherrschenden Körper- und Leistungsideal. Dicke gelten als unattraktiv, als unsportlich, als faule Versager. Schließlich könnten die Dicken auch einfach Sport machen, sich disziplinieren und abnehmen. So lauten die gängigen Vorurteile. Eine Mehrheit der Befragten in einer Studie sagte: "Wer fettleibig ist, ist selber schuld." Die Befragten bewerten außerdem den Charakter dicker Menschen besonders negativ. Eine Studie mit Kindern sagt aus, dass bereits Kinder diese Vorurteile verinnerlicht haben. Es gibt experimentelle Studien, wo Kindern Silhouetten von Personen gezeigt werden - im Rollstuhl oder dick - und sie dann gefragt werden: „Wen hättest du am liebsten oder am wenigsten als Freund?“ Dabei schneiden die dicken Kinder regelmäßig am schlechtesten ab. Wenn Kinder spüren, dass andere Menschen ihren Körper bewerten, dass sie ihn negativ abwerten und dass sie ihn verändern sollen, lernen sie durch Erfahrung, dass man nicht gut und richtig ist, so wie die anderen Kinder. Und das hat Folgen für das weitere Leben des Kindes. Studien zeigen das Übergewichtige starke Minderwertigkeitsgefühle und ein schlechtes Körpergefühl haben. Sie verinnerlichen die negativen Urteile anderer als Selbstbild – und haben ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko eine Depression zu entwickeln. Wie die Dicken gesellschaftlich wahrgenommen werden, beeinflusst ihre Gesundheit. Diskriminierung macht krank. Es reicht schon die Stigmatisierung beim Arzt oder der Ärztin, die dazu führt, dass dicke Menschen seltener zum Arzt gehen, häufiger dann erst wenn die Krankheiten schon fortgeschritten sind und dass sie Vorsorgeuntersuchungen seltener wahrnehmen. Das ist eine direkte Auswirkungen auf die Gesundheit - durch die Stigmatisierung und nicht durch das hohe Gewicht! Wenn wir also den Umgang mit übergewichtigen Menschen so weiter führen, wie bisher, wird das Problem immer ein Problem bleiben. Wir müssen lernen, Menschen, egal ob übergewichtig oder nicht, bewertungsfrei, respektvoll und wertschätzend gegenüber zu treten. Erst, wenn wir das gelernt haben, haben wir angefangen ein großes Problem zu lösen.