Wie sieht es heute aus? Was hat sich verändert und welche Rolle spielt mein ehemaliges Übergewicht heute noch? Wo begleitet es mich noch, wenn auch nur gedanklich?
Fast fünf Jahre sind seit meiner Gewichtsabnahme vergangen. Fast jeden Morgen zeigt nun meine Waage kontinuierlich zwischen 74 und 77 Kilogramm an. Oh nein, stimmt nicht. Nach meinem Urlaub im Oktober 2021 hatte ich 78 Kilogramm! Ich kann es so sicher sagen, weil ich mich immer noch fast
täglich wiege. Dieses tägliche Wiegen, habe ich bis heute nicht aus meinen Gedanken bekommen.
Jahrzehntelang war die Waage mein Feind und ich frage mich oft: Was muss ich ändern, um dieses tägliche Wiegen nicht mehr zu tun? Es scheint so, als wären in meinem Unbewussten, auch nach fünf Jahren, noch alte Muster vorhanden. Ich würde das sehr gerne ändern, aber aus welchen Gründen auch immer, bekomme ich es nicht hin.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich diesbezüglich doch schon einiges geändert. Heute steige ich auf die Waage und weiß, dass das Ergebnis gut ist. Ich habe keine Sorge mehr, zugenommen zu haben, und vertraue meinem Körper. Er hat in den letzten fünf Jahren Unglaubliches geleistet und mein Vertrauen in ihn ist stetig gewachsen - und trotzdem ist das Wiegen noch immer Bestandteil meines Lebens. Seit einiger Zeit, denke ich darüber nach, ob vielleicht in mir noch so eine "Urangst" ist wieder zuzunehmen? Eine Angst, die meinen Umgang mit dem wiegen erklären würde.
Wenn ich mir mein Essen heute anschaue, kann ich sagen ... naja, auch nicht immer optimal. Aber eins kann ich sagen, ich esse zu 80 % nur wenn ich körperlichen Hunger habe. Die restlichen 20 Prozent sind Tage, an denen andere Sachen wichtiger sind und an diesen Tagen handelt es sich ausschließlich um emotionales Essen. Am Anfang meiner Abnahme habe ich probiert emotionales Essen nicht zuzulassen. Und ich kann sagen, dass funktioniert nicht! In jedem Leben gibt es Situationen die emotional schwierig sind, und Menschen die wie ich eine Essstörung hatten, kompensieren diese Situationen in erster Linie mit Essen. Ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt dies zu akzeptieren und meinem Gewicht hat es nicht geschadet.
Schon länger hat nun mein Leben als Normalgewichtiger einen Platz in mir gefunden. Es gibt Momente und Situationen, wo mir erst hinterher auffällt, dass etwas anders war. Als ich einmal im Krankenhaus lag, kam eine junge, etwas fülligere Servicedame und fragte nach meinen Essenswünschen. Ich teilte ihr meine Wünsche zum Abendbrot mit und sie bot mir viele andere Zugaben an. Ich lehnte dankend ab und sie sagte sehr lustig: "Wenn ich in ihrem Alter noch so eine Figur hätte, wie sie, dann würde ich alles nehmen." Ich fing an zu lachen und freute mich über ihr Kompliment. Von ihr einfach ausgesprochen, für mich eine große Bedeutung.
In diesem Moment fiel mir wieder ganz bewusst auf, dass mein Umfeld mich anders wahr nimmt. Menschen, die ich heute kennen lerne, nehmen mich als normalgewichtigen Menschen wahr. Sie wissen natürlich nicht, dass ich einmal stark übergewichtig war und einen hohen Leidensdruck hatte. Spannend für mich war zu erkennen, dass ich im Grunde immer noch davon ausgehe, dass die Anderen mich als dicke Person sehen. Viele Jahre war ich immer die „Dicke“.
Eine Sache beschäftigte mich eine lange Zeit. Warum habe ich nicht eher nach einem Weg oder nach Hilfe gesucht mein Übergewicht los zu werden? Obwohl - Moment, das stimmt nicht. Einen Weg und nach Hilfe gesucht, habe ich in den vergangenen vierzig Jahren immer. Was hat mich scheitern lassen? Und warum hat es 2016/2017 geklappt? Waren die Umstände da anders? Was hat mir die Kraft und auch den Mut gegeben mein größtes Problem in meinem Leben mit Erfolg zu lösen? Was hat mich motiviert?
Ich habe damals meine Entscheidung mit sehr viel Härte getroffen. Ich war in meinen Augen in einer absoluten Ausnahmesituation, was mein Gewicht betraf. Ging ich zum Arzt, weil mir meine Gelenke weh taten, ich kurzatmig war oder meine Schuppenflechte kam, lag es an meinem Gewicht. Genauso war es wenn mein Rücken weh tat, ich Bauchschmerzen hatte oder erhöhte Leberwerte. Bei der Sonographie wurde mir mitgeteilt, dass die vorhandene Fettleber schwer darstellbar sei auf Grund des vorhandenen Bauchfettes. Ich könnte noch ganz viel davon erzählen. Viele solcher Aussagen haben mich im Leben begleitet und auch verletzt.
Heute weiß ich, dass 2016 die Umstände anders waren: Ich hatte mich bereits entschlossen, meine Arbeit im öffentlichen Dienst aufzugeben und etwas anderes zu tun. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, in welche Richtung ich mich orientieren wollte, aber dass eine Veränderung ansteht, war mir schon bewusst. Die Kraft mein größtes Problem anzugehen, schöpfte ich genau aus dieser Entscheidung. Ich hatte mich entschieden, mich zu verändern. Beruflich, wie auch körperlich. Und den Mut? Ich glaube, den hatte ich durch meinen Mann, meiner Familie und Freunde bekommen.
Und nun zu meiner Motivation. Sie entstand langsam und stieg stetig an. Als erstes suchte ich mir Hilfe und fand einen Trainer, der mir half, meinen Weg zu finden. Durch sein Training lernte ich, mir unter anderem gedanklich vorzustellen, wie mein Leben verlaufen würde, wenn ich schlank wäre. Jeden Abend wenn ich im Bett lag, stellte ich mir vor, wie ich aussehen würde, wenn ich mein Wunschgewicht erreicht hätte. Was würde ich anziehen, welche Friseur hätte ich? Was würde ich alles machen mit weniger Körpergewicht?
Im Laufe der Zeit wurden die Bilder, die ich sah, immer klarer und verschwanden nicht mehr aus meinen Gedanken. Nach einigen Wochen veränderten sich die Bilder. Mein Gehirn passte diese Bilder dem neuen Aussehen und dem reduzierten Körpergewicht an. Und genauso regulierte mein Körper die Nahrungszufuhr ganz automatisch an das neue reduzierte Körpergewicht. Und mein Gewicht ging weiter runter.
An den meisten Tagen ist es heute schon so, dass ich gar nicht mehr daran denke dass ich einmal dick war. In meinem Leben spielen nun andere Prioritäten eine Rolle. Dieses Leid und die Verletzungen, die ich auf Grund des Übergewichtes erfahren habe, verblassen immer mehr. Und doch gibt es Stunden, wo sie wieder da sind. Wenn ich es dann zulasse zu fühlen, was es in mir auslöst, kommen immer noch Emotionen. Aber sie sind nicht mehr schmerzhaft und ich kann sie annehmen.
Diese vielen Jahre meiner übergewichtigen Zeit gehören zu meinem Leben. Mein Weg in ein schlankes Leben ist beendet, ich habe mein Ziel erreicht und halte es mit einer großen Achtsamkeit. . Der Weg war nicht immer einfach und es gab Zeiten, wo ich am liebsten aufgegeben hätte. Aber es hat sich gelohnt weiter zu machen.
Heute begleite ich in meiner Praxis Menschen, die sich - genau wie ich damals - auf den Weg machen wollen, ihr Körpergewicht zu reduzieren. Ich helfe ihnen ihren Weg zu finden und ihn bis zum Ende zu gehen. Manchmal bedarf es nur ein wenig Begleitung und einen Schlüssel um den Weg frei zu machen in ein schlankes, ganz neues Leben.
Mach Dich auf Deinen Weg, es lohnt sich.